Diversity ist eine Facette von Innovation. Innovation ist eine Facette von Diversity. Warum? Neue Ideen entstehen nur da, wo nicht immer dieselben Köpfe zusammengesteckt werden – und die Welt, in der wir leben, hat neue Ideen bitter nötig. Für Unternehmen hat Diversität aber noch eine andere Dimension. Wer heute nach Mitarbeiter:innen sucht, wird unter Männern kaum noch fündig werden – und Frauen wollen oft nicht in den Strukturen arbeiten, die sie lange vorgefunden haben. Was also bleibt, ist die Transformation. Doch die hat es in sich.
robotspaceship: Vor dem wie, noch einmal zu dem warum: Warum sollten Unternehmen auf Diversity setzen?
Marco Duller-Onaran: Das ist natürlich eine Frage, die eine vielschichtige Antwort fordert, aber: Der Aspekt, den die meisten direkt im Kopf haben werden, ist der Fachkräftemangel. 84 Prozent aller Männer in Deutschland zwischen 20 und 64 Jahren haben Arbeit. Das heißt, das Potenzial ist fast vollständig ausgeschöpft. Also, selbst wenn du noch 200 Industrieschlosser einstellen willst, wird das nicht klappen, weil man sie einfach nicht findet.
Also in aller Kürze vorweg: Diversität ist schlicht und ergreifend eine Frage der Realitäten auf dem Arbeitsmarkt?
Wenn du neue Leute brauchst, muss du heute deinen Horizont erweitern.
Gilt das nur fürs Geschlecht?
Das gilt einerseits fürs Geschlecht, das gilt aber auch für die Qualifikationen, Herkunft, Kultur und Nationalität. Unternehmen, die Stellen zu besetzen haben, müssen sich heute fragen, wie sie Quereinsteiger anlocken können. Das, was wir schon immer so gemacht haben, das funktioniert heute einfach nicht mehr. Das ist die eine wichtige Dimension.
Welche ist die andere?
Diverse Teams erhöhen die Produktivität um etwa ein Viertel, sie produzieren bessere Ideen, sie reagieren anders in Krisen und diverse Teams schützen Unternehmen vor Shitstorms.
Wie denn das?
Wir erinnern uns alle noch an den VW-Spot aus dem Jahr 2020, in dem eine weiße Hand einen Schwarzen Mann zuerst herumdirigiert und dann in ein Restaurant schnippst. So etwas wäre mit einem diversen Team einfach nicht passiert. Das kostet dich unglaublich viel Reputation und noch mehr Marketing-Budget, um das wieder gut zu machen. Und dann gibt es noch eine weitere Dimension, die wir in Deutschland kaum auf dem Schirm haben.
Welche?
Es geht hier um Transparenzgesetze. Wir kennen das hier bisher fast nur aus den Führungsebenen, wo es schon Quoten gibt, die von Seiten der EU gekommen sind. Amerikanische oder britische Unternehmen sind hier aber schon sehr weit vor uns und die verankern mittlerweile in ihren Supplier-Bedingungen, dass eine Diversitätsstrategie vorhanden sein muss.
Kannst du das bitte einmal ins Konkrete übersetzen?
Viele große Konzerne arbeiten zum Beispiel nicht mehr mit Anwaltskanzleien oder Beratungen zusammen, wenn die Teams nur aus Männern bestehen. Das heißt, der gesellschaftliche Anspruch, aber auch der unternehmerische Anspruch wandelt sich. Wenn ich nicht auf Diversität setze, werde ich es immer schwerer haben bei den Marktzugängen – ganz abgesehen davon, dass mir nicht mehr die erfolgreichen Produkte einfallen.
Verstehe ich das richtig: Wir zoffen uns hier wie die Kesselflicker:innen über Dinge wie Frauenquote und im UK und den USA sind sie da schon längst weiter?
Wenn man mit Vorstandsmitgliedern aus Dax-Konzernen spricht, die aus den USA oder Großbritannien kommen, sagen die, dass sie niemals gedacht hätten, dass Deutschland so im Mittelalter ist. Wenn dort Unternehmen Personen mit einem bestimmten Profil brauchen, wird der gesamte Recruiting-Funnel darauf eingestellt. Diese Diskussion, dass Frauen arbeiten, wenn sie ein Kind bekommen haben, gibt es da gar nicht. Den Begriff Rabenmutter kennen wir auch nur in Deutschland.
Da clasht also die moderne Welt mit Deutschlands konservativen Strukturen, die nicht mit der Realität mithalten können.
Ich will es anders ausdrücken. In der Beratungspraxis sehen wir immer, warum Unternehmen sich bewegen. Meistens, weil Investor:innen sagen: „Scheiße, wie seid denn ihr aufgestellt?“ oder „Warum seid ihr nur Männer?“
Wer dann an neues Geld will, muss also was daran machen. Es gibt inzwischen einfach Kund:innen-Gruppen, die nicht mehr erreichbar sind, wenn sich Unternehmen nicht richtig aufstellen. Der nächste Grund, warum Unternehmen sich bewegen, ist, weil Mitarbeiter:innen keine Lust mehr haben, in einem rein von Männern dominierten Umfeld zu arbeiten. Sie gehen dann, weil sie dort keine Karriere machen können.
Reicht das wirklich für Bewegung?
Ja und nein. Unternehmen können die Fluktuation von Mitarbeiter:innen lange ausblenden. Fehlendes Geld nicht.
Kommen wir jetzt zu dem Wie: Wie stellt man sich denn diverser auf?
Viele denken ja, dass es nur darum geht, mehr Frauen einzustellen. Aber es geht ja um einen großangelegten strukturellen Wandel. Stellen wir uns mal vor, wir sind ein Unternehmen aus dem Mittelstand und sind regional eng verwurzelt. Männer gibt es auf dem Arbeitsmarkt in den meisten Regionen nicht, Frauen schon. Als Unternehmen in einer Region bin ich doch so nah an den Leuten dran, ich kann stark auf deren Bedürfnisse eingehen – damit erarbeite ich mir einen Wettbewerbsvorteil. Denn: Es ist unwahrscheinlich, dass jemand, also ein Mann in diesem Fall, von sagen wir Hamburg, für einen Job auf die Schwäbische Alb zieht. Es ist aber sehr wahrscheinlich, dass eine Frau, die schon dort wohnt, bei dir anfängt.
Das ist eine sehr unternehmenszentrische Sicht.
Ziel sollte natürlich sein, dass es eine inklusive Unternehmenskultur gibt, in der jede:r so sein darf, wie er oder sie möchte. Noch ist es immer noch so, dass Mitarbeiter:innen in vielen Unternehmen verheimlichen, dass sie homosexuell sind. Eigentlich undenkbar. Oder Menschen mit Migrationshintergrund gehen oft nicht in die ländlichen Regionen, weil sie sich dort nicht wohlfühlen. Wenn man da also eine andere Kultur schafft, dann ist das für viele schon ein wichtiger Faktor, nicht nur neue Leute, sondern eben auch neue Ideen, Innovation zu generieren. Was ja umso wichtiger wird, wenn bald die Baby Boomer in Rente gehen.
Wie meinst du das?
In den nächsten zehn bis 15 Jahren gehen in vielen Unternehmen 30 bis 50 Prozent der Belegschaft in den Ruhestand. Bei dem Arbeitsmarkt, wird das schwierig, die zu ersetzen. Gleichzeitig bleiben die Jüngeren oft nicht so lange im Unternehmen und die, die jetzt gehen, waren teilweise ihr ganzes Arbeitsleben dort. Da geht dir richtig Wissen flöten, wenn du nicht aktiv dagegenwirkst und Umfelder schaffst, in denen Menschen gerne bleiben. Jemand, der 50 ist, hat noch 15 bis 17 Jahre, den darf man nicht vernachlässigen. Das wird aber oft leider vergessen.
Warum fällt es denn vielen Unternehmen überhaupt noch so schwer, sich des Themas anzunähern?
Weil wir es uns zugestehen müssen, dass wir auf dem Weg Fehler machen werden.
Wie meinst du das?
Stell dir vor, du bist im Vorstand eines Unternehmens. Du bist es gewohnt, dass du bisher immer fast alles gewusst hast und immer die Richtung vorgeben konntest. Und jetzt kommt da auf einmal ein Thema, mit dem du dich noch nie so richtig beschäftigt hast. Und du traust dich auch nicht so richtig, mit jemandem darüber zu reden, weil du von vielen Seiten schon gehört hast, dass Leute ins Fettnäpfchen getreten sind und dass es Shitstorms gab und alles ganz schwierig ist. Oft gibt es niemanden, der denen dann dabei helfen kann, sich in dem Thema aufzuschlauen. Man muss sich immer fragen, warum sind manche Facetten für die einen wichtig, während sich andere darüber aufregen – Gendern zum Beispiel.
Spannend! Was du hier beschreibst, scheint viele Parallelen zur Digitalisierung zu haben, weil viele Unternehmen A) nicht wissen, wie es gehen soll und Angst vor Fehlern haben und B) nicht wissen, wie man das kommuniziert.
Es ist ja auch so. Aber man muss schon auch berücksichtigen, dass Unternehmen nicht alles machen können. Man muss schon immer auch sehen, was möglich ist. Die Gesellschaft muss auch ihren Teil machen. Denn wenn du, sagen wir zu 100 Prozent traditionelle Rollenbilder verankert hast, wirst du als Unternehmen auch nicht Menschen anlocken, wenn du ihnen einen Kindergarten und Shared Leadership bietest. Und wenn wir über Frauen im Arbeitsleben sprechen, kommt noch dazu, dass der Staat es bisher nicht schafft, eine ordentliche Betreuungssituation herzustellen. Das kannst du als Unternehmer:in nicht aufbrechen. Für mich gibt es also eine viel zu wenig diskutierte Facette von Diversity.
Welche?
Unternehmen, heißt es, müssen heute alles machen: Schnell divers werden, ein Diversity-Management einführen und so weiter – aber sie müssen eben auch realistisch bleiben. Bleiben wir in der Chemie-Industrie. Da hast du zwischen acht und 15 Prozent Frauen unter den Blue-Collar-Workern. Das wirst du nicht bis 2030 auf 30 Prozent steigern. Das gilt auch für ITler:innen: 19 Prozent der Studienabgänger:innen in dem Bereich sind Frauen – da wirst du keine Quote von 30 oder 40 Prozent im Unternehmen halten können. Das ist vielen nicht bewusst, weil wir im gesellschaftlichen Diskurs immer nach dem Maximum rufen.
Was ist verkehrt daran?
Man vergisst dann gerne mal, was man schon hat. Ich muss auch sehen, wie übersetze ich Diversity ins Unternehmen?
Und wie kann das gelingen?
Der Schlüssel hier ist Kommunikation. Es darf nicht so klingen, als wären die, die schon seit 30 Jahren im Unternehmen sind, auf einmal nichts mehr wert. Und natürlich ist es wichtig, dass man die Führungskräfte hinter dem Thema versammelt. Man muss einfach erklären können, warum man das macht und nicht mehr das, was vor 20 Jahren noch geklappt hat.
Irgendwie klingt das alles nach einem ziemlichen No-brainer – und deshalb frage ich mich, warum das Ganze immer noch so kontrovers diskutiert wird. Hast du eine Idee?
Klar, das liegt an der Komplexität der Sache. Es bringt dir nicht sofort mehr Mitarbeiter:innen, es bringt dir nicht sofort mehr Sales, es bringt dir nicht diesen „Wow, du hast jetzt was verändert und 10 Prozent Kosten eingespart“-Moment. Das sind ja die Projekte, die jede:r liebt und die man öffentlich loben kann. Hier hat man das Gegenteil: Es ist erstmal Aufwand, du beschäftigst damit die Organisation. Und die Menschen in deiner Organisation bringen die Vorurteile mit, die sie dem Thema gegenüber haben. Es trifft also auf gelernte Argumente in einem Unternehmen. Aber es kommt noch etwas hinzu.
Was?
Du hast eine Wirtschaftskrise, vielleicht eine Absatzkrise, du musst dich um tausende Dinge kümmern. Es gibt so viele Dinge, die du kurzfristiger erreichen kannst und vielleicht auch musst. Ist Diversity dann Priorität? Willst du dir wirklich ein Team bauen, das in Krisenzeiten zwar stabiler, dafür aber auch langsamer agiert, weil viel mehr Dinge ausdiskutiert werden müssen?
Bist du denn trotzdem optimistisch, dass die Unternehmen hier das hinbekommen?
Auf jeden Fall! Es gibt auch keine andere Wahl mehr. Durch die starken Regularien, wie die ESG-Kriterien (Environmental, Social & Governance), bei denen das Social-S immer mehr mit Diversität verbunden wird, muss du dich als Unternehmen damit beschäftigen. Gleichzeitig gibt es so viele Impulse: Wenn du mit jüngeren Generationen zusammenarbeiten willst, wenn du im Ausland aktiv bist, wenn du Investor:innen hast – dann musst du dich damit beschäftigen. Und wenn du in Zukunft noch halbwegs deinen Bedarf an Mitarbeiter:innen decken willst, auch.
Wer ist Marco Duller-Onaran?
Marco Duller-Onaran ist Gründer und Partner der Diversity Consulting ACI und von Global Digital Women (GDW). Beide Unternehmen hat er zusammen mit Tijen Onaran gegründet. Das Ziel der beiden ist es, sich für ein diverseres und zukunftsgewandtes Unternehmer:innentum einzusetzen.